Tourbericht – 25.02.2021

Datum: Donnerstag, 25.02.2021

Trigger: Gewalt, Blut

Grundbedürfnis: Sicherheit. Wie lebt es sich ohne Sicherheit? Ohne zu wissen, wie ich morgen meinen Hunger stillen werde, ohne einer sicher verschlossenen Tür, die mich vor bösen Menschen schützt, ohne einer Waschmöglichkeit, die mich vor Keimen und Viren schützt? Mein Vorstellungsvermögen kann das kaum erfassen.

In der Büroküche schmiere ich Brötchen. Ungefähr 40 müssen es werden, und kurz bevor ich fertig bin, frage ich Olaf, ob auch ein paar Veggie-Brötchen dabei sein müssen. „Nein, gibt niemanden mehr, der nach Brötchen ohne Wurst fragt. Die eine Klientin, die Vegetarierin war, wurde doch letztes oder vorletztes Jahr hinter’m Bahnhof umgebracht.“ Stille. Mein Gott…das muss ich verdrängt haben. Keine Veggie-Brötchen also.

Auf der Petersstraße kommt uns schon ein Klient entgegengelaufen. Sind wir spät dran? Nein, alles gut, wir sehen uns gleich beim Leuschner. Gleich treffen wir auf ein Pärchen, das wohl auf der Durchreise ist. Er musste vor Kurzem ins Krankenhaus, also wurde sein Hund ins Tierheim gegeben. ? Nur darf er ihn jetzt nicht abholen, weil er nicht genug Geld hat, die Rechnung für’s Tierheim zu bezahlen. Aber ohne seinen Hund verlässt er auf keinen Fall die Stadt. Wir können nur weitervermitteln und hoffen, ihn kann jemand zum Tierheim begleiten und eine Lösung finden. Über eine neue Jogginghose, Tassensuppen und ein paar Hygieneartikel freuen sich beide trotzdem riesig und sind sehr dankbar.

Zwischendurch werden wir nach den Einkaufsgutscheinen gefragt. „Teilweise war es echt unfair letztes Jahr, manche haben mehrere bekommen, während manche auch mal leer ausgingen.“ Das tut uns natürlich sehr leid, wir wollten niemanden bevorzugen. Auch für uns war letztes Jahr vieles neu, mehrere Organisationen haben die Gutscheine verteilt, da konnte es passieren, den Überblick zu verlieren. Am wichtigsten war uns, überhaupt zu helfen, auch wenn nicht alles perfekt war. Wir hoffen, ihr versteht das und verzeiht uns. ❤

Am Leuschner herrscht gute Laune. Alle freuen sich sehr über uns, wir quatschen eine Weile (natürlich mit Maske und Abstand). Eine Tasse Kaffee geht immer, ein Brötchen auch. Das positive Feedback und die große Dankbarkeit machen uns ein bisschen glücklich. ❤ Aber nur, wenn wir nicht lange drüber nachdenken. Außerdem steht uns eine der schlimmsten Geschichten noch bevor.

Auf dem Weg Richtung Bahnhof gibt es hier und da ein paar Gespräche, auch ein paar Euro werden uns als Spende in die Hand gedrückt. Vor dem Bahnhof spricht uns eine Frau an, sie hat einen kleinen Schmierzettel in der Hand, auf dem „Scharnhorststraße“ steht. Sie sei in Leipzig angekommen, Pass und Geld wurden ihr gestohlen, sie brauche nur eine Unterkunft für die Nacht und habe von der Unterkunft für Frauen gehört. Wir überlegen eine Weile, wie sie dort jetzt am besten hinkommt, zu Fuß sind es immerhin 45min. Wir rufen den Hilfebus an, der hat heute aber Standzeit in Connewitz und könnte sie erst gegen neun abholen, also erst in zweieinhalb Stunden. Zum Glück findet Olaf noch einen Fahrschein in seinem Portemonnaie, den gibt er ihr. Mit der 10 oder 11 kann sie ja direkt durchfahren. Ein Notfallbett ist auch noch frei in der Scharnhorststraße, das haben wir abgeklärt. Zumindest ein kleines Problem gelöst. ?

Am Bahnhofseingang finden wir und die Klient*innen uns dann eingekreist von einem Duzend Polizist*innen. Ausweiskontrolle für alle. Wir lassen uns nicht beirren und verteilen unser Zeug. Dann müssen wir weiter, die Polizei bleibt. Können wir wieder nur hoffen, dass keine Platzverweise erteilt werden.

Es wird recht spät, wenn wir noch ein paar Klient*innen in der Innenstadt antreffen wollen, müssen wir uns beeilen. Und so kommen wir zu einer Geschichte, die die tiefsten Abgründe unserer Gesellschaft auf grausame Weise offenbart und uns unsere Hilflosigkeit erbarmungslos vor Augen führt. Zunächst ahnen wir nichts, als wir den letzten Klienten unserer Runde ansprechen. Gern nimmt er einen Kaffee an, auch einen für seinen Kumpel, der gleich wieder da ist. Da nimmt er seine Kapuze ab, die ein großes Pflaster auf seinem Kopf bis jetzt verdeckt hatte. Mit Tränen in den Augen und unendlicher Traurigkeit fängt er an zu erzählen, dass er in der vergangenen Nacht überfallen wurde. Mit einer Fahrradkette hat jemand mehrmals auf ihn eingeschlagen, ihn beklaut, ihn blutüberströmt liegen gelassen. Wegen 5€, die er im Geldbeutel hatte. Er hat es gerade noch geschafft, sich zu seinem Kumpel zum Bahnhof zu schleppen. Als dieser dazukommt, erzählt er uns, wie er sich erschrocken hat, seinen Freund so vorzufinden, alles sei voller Blut gewesen, aber ins Krankenhaus wollte er erst nicht. Der Kumpel ließ natürlich nicht locker, ohne Handy konnte er aber keinen Krankenwagen rufen. Eine Person, die er antraf, war sich zu schade, ihm ihr Handy für den Notruf zu leihen. So hatte er sich schließlich an die Polizei gewandt, der Krankenwagen kam, mit 16 Stichen musste die Kopfwunde genäht werden. Und wir stehen da und können nichts machen. Nur seine Hand halten und ihm zuhören. Da unsere zwei Wagen fast leer sind, gehen wir nochmal zum Büro und packen zwei Schlafsäcke, Isomatten und ein paar Lebensmittel für die beiden ein. Und einen kleinen Talisman – ein kleines selbstgenähtes TiMMi-Monsterchen, das noch von unserem letzten Herbstfest übrig war.

Als wir zurückkommen und den beiden alles übergeben, überkommt den Klienten eine Welle von Emotionen. „Ich habe so lange kein Geschenk bekommen“, sagt er mit zittriger Stimme, und fragt uns mit flehenden Augen, ob wir nächste Woche wiederkommen.

Sicherheit: ein Grundbedürfnis. Anteilnahme: auch.

von Sandra & Olaf

Im Rahmen unseres Projektes Care Bags sind wir jede Woche Donnerstag mit unseren Bollerwagen in der Innenstadt und am Bahnhof Leipzig unterwegs. Wir verteilen Lebensmittel, Hygieneartikel und andere Sachen an obdachlose und wohnungslose Menschen. – Erfahre hier mehr!